Bern: Für Menschen in prekären Situationen ist das Recht auf Mitwirkung und Selbstbestimmung nicht immer gewährleistet. Dies folgt aus dem Nationalen Forschungsprogramm „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76) des Schweizerischen Nationalfonds.
Wer in der Schweiz in Not gerät und auf Hilfe angewiesen ist, wird vom Sozialwesen unterstützt. Kindes- und Erwachsenenschutz, Sozialhilfe, Opferberatung und weitere Stellen helfen Kindern und Jugendlichen, Kranken und Menschen mit Behinderungen, Migrant:innen und Geflüchteten. Das Sozialwesen und der Sozialstaat sind aber historisch belastet. Mehrere hunderttausend Menschen waren im 20. Jahrhundert von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen, viele wurden Opfer von Misshandlung, Missbrauch und wirtschaftlicher Ausbeutung.
Dieses Erbe trägt das Sozialwesen mit sich. In vielen Bereichen wurden inzwischen Verbesserungen umgesetzt. Gesetzlich legitimierte Massnahmen sind jedoch je nach Situation nach wie vor mit Zwang verbunden oder werden von den Betroffenen als Zwang empfunden. Deren Rechte werden teilweise missachtet. Dies zeigen die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76), an dem rund 150 Forschende beteiligt waren und das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) durchgeführt wurde.
Die Selbstbestimmung der Betroffenen kommt zu kurz
In den letzten fünfzig Jahren hat sich das Sozialwesen verändert. Der Kindes- und Erwachsenenschutz ist auf gesetzlicher Ebene modernisiert worden, das Kindeswohl steht im Zentrum, die Stellung Minderjähriger in rechtlichen Verfahren ist gestärkt. Die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention und die Behindertenrechtskonvention der UNO unterzeichnet. Doch die kantonalen Zuständigkeiten und die komplexe Behördenorganisation führen zu Rechtsungleichheiten, besonders was die Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen angeht. Für Letztere sind Transparenz und Rechtssicherheit oft nicht gegeben, wenn sie beispielsweise nicht nachvollziehen können, welche Funktion die Fachperson hat, die ihnen für Abklärungen einen Wohnungsbesuch abstattet.
Das NFP 76 kommt zum Schluss, dass die Verfahren im Kindes- und Erwachsenenschutz auf Bundesebene harmonisiert werden sollen. Der Zugang zu den relevanten Informationen ist zu vereinfachen. Dazu gehört die verbesserte Aufklärung über Rechte und Pflichten sowie der Abbau administrativer und sprachlicher Barrieren, damit die Partizipation von Betroffenen gewährleistet, ihre Integrität geschützt und ihre Autonomie gefördert werden.* Diese sollen ihre eigenen Vorstellungen darüber entwickeln, was ihnen helfen und nützlich sein könnte. Der Kindes- und Erwachsenenschutz ist so umzusetzen, dass die Sichtweisen und Anliegen der Betroffenen stärker berücksichtigt werden. Ihre Selbstbestimmung ist konsequent zu fördern.
Behördliche Eingriffe können lebenslänglich negative Auswirkungen haben
Menschen, die Ende der 1950er Jahre als Säuglinge in Heimen platziert wurden, kamen oft aus Gastarbeiterfamilien oder waren Kinder von ledigen Müttern. Sie weisen bis ins späte Erwachsenenalter mehr gesundheitliche Probleme und eine geringere Lebenserwartung auf als Kinder, die nie in einem Heim platziert waren. Zudem ist die Entwicklung ihrer kognitiven, motorischen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten verlangsamt, wie das NFP 76 nachweist.** Interventionen von Behörden können sich also ein Leben lang negativ auswirken. Daher sollten diese behutsam vorgehen. Alle Kinder sollen gleiche Bildungs- und Berufschancen erhalten, und vulnerable Jugendliche, etwa unbegleitete minderjährige Geflüchtete, sind an den Übergängen in das Erwachsenenleben zu begleiten und auf dem Weg in die Selbständigkeit zu unterstützen.
Die Betreuung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in prekären Situationen beruht auf einem Finanzierungsmix, an dem gleichzeitig Bund, Kantone und Gemeinden beteiligt sein können. Liegt die Entscheidung bei den Gemeinden, die auch für die Sozialhilfe zuständig sind, werden beispielsweise weniger Fremdplatzierungen angeordnet als wenn kantonale Verwaltungsbehörden oder Gerichte entscheiden. Die Resultate des NFP 76 legen nahe, die Finanzierung so zu regeln, dass Fehlanreize vermieden werden und genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Die zuständigen Organisationen sollen finanziell so ausgestattet sein, dass die von ihnen unterstützten Personen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können.
Dazu gehört, dass Fachpersonen etwa in der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie in der Aus- und Weiterbildung für stigmatisierende Wirkungen ihrer Arbeit zu sensibilisieren sind, zum Beispiel wenn sie psychologische und medizinische Diagnosen vornehmen. Hierfür brauchen sie im beruflichen Alltag zeitliche und finanzielle Ressourcen.
Das NFP 76 identifiziert Baustellen in der Sozialpolitik
Die behördlichen Eingriffe tangieren nicht nur die Direktbetroffenen, sondern auch die Nachkommen. Unwissentlich gaben und geben Eltern ihre traumatischen und traumatisierenden Erfahrungen weiter. „Um zu verhindern, dass nach der zweiten eine dritte Generation betroffen ist, braucht es einen einfachen Zugang zu unentgeltlicher Unterstützung“, sagt Alexander Grob, Präsident der Leitungsgruppe des NFP 76. Dazu gehören Beratung und Hilfe bei der Aufarbeitung und Dokumentation von Lebensgeschichten. Auch und besonders ist die öffentliche Anerkennung des Leids weiterhin nötig.
Das NFP 76 identifiziert Schwachpunkte der Sozialpolitik. „Ich hoffe, dass die Behörden diese Baustellen gemeinsam mit Betroffenen und Expertinnen und Experten angehen, um über Chancengerechtigkeit und ihre institutionellen Voraussetzungen nachzudenken und Verbesserungen zu realisieren“, sagt Grob. „Unser System der Fürsorge hat in den letzten Jahren viel gelernt. Nun ist es an der Zeit, die Umsetzung dieses Wissens voranzubringen.“
** Patricia Lannen, Heidi Simoni, Oskar Jenni: Heimplatzierung von Kleinkindern.
Quelle: Presseportal