Weniger Köpfe, mehr Effizienz? Eine hypothetische Debatte um demokratische Verschlankung
Die Schweiz ist bekannt für ihre föderale und direkte Demokratie – mit rund 2’700 Parlamentarier:innen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene. Doch was wäre, wenn diese Zahl plötzlich um 30 % schrumpfen würde? Wäre der Staat effizienter? Oder drohten demokratische Qualitätseinbussen? Diese hypothetische Debatte berührt grundlegende Fragen über Repräsentation, Vertrauen und Verwaltungsaufwand in einem komplexen politischen System.
In der Schweiz ist die politische Beteiligung breit aufgestellt: 26 Kantonsparlamente, rund 200 Gemeindebehörden und das eidgenössische Parlament mit 246 Sitzen (National- und Ständerat). Diese Vielfalt ermöglicht Nähe zur Bevölkerung, aber auch eine hohe Anzahl politischer Mandatsträger:innen – teils ehrenamtlich, teils professionell.
In der Vergangenheit gab es vereinzelt Vorstösse zur Reduktion politischer Strukturen, etwa bei Gemeindezusammenschlüssen oder Debatten um kleinere Parlamente. Doch systematische Einsparungen in grossem Stil – etwa minus 30 % Mandate – wurden bislang nie umgesetzt. Dennoch wird der Ruf nach „weniger Bürokratie“ oder „Entpolitisierung“ in Krisenzeiten oder Reformphasen lauter.
Befürworter einer Verschlankung argumentieren:
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Effizienzgewinn: Weniger Entscheider bedeuten schnellere Prozesse, kürzere Diskussionen, klare Verantwortung.
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Kostenreduktion: Weniger Sitzungsgelder, Infrastruktur und Verwaltungsaufwand.
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Professionalisierung: Weniger Posten = mehr Qualität? Fokus auf fachlich starke Köpfe statt breite Besetzung.
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Digitalisierungseffekt: Viele politische Abläufe könnten automatisiert oder über Online-Beteiligung kompensiert werden.
Kritiker sehen hingegen Gefahren:
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Verlust demokratischer Vielfalt: Weniger Sitze bedeuten weniger Meinungen, weniger Minderheitenvertretung.
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Entfremdung: Wenn lokale Mandate wegfallen, wächst die Distanz zwischen Bevölkerung und Politik.
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Überlastung: Weniger Politiker:innen müssen mehr Dossiers abarbeiten – Qualität könnte sinken.
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Machtkonzentration: Reduktion birgt Risiko, Entscheidungsgewalt auf kleinere Gruppen zu verlagern.
Ein Beispiel: Die Stadt Bern reduzierte 2020 ihr Gemeindeparlament von 80 auf 60 Sitze – seither wird dort über Effizienzgewinn, aber auch über sinkende Diversität diskutiert.
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Die Schweiz hat im internationalen Vergleich eine sehr hohe Dichte an politischen Mandaten pro Kopf.
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Der Gemeinderat der Stadt Zürich zählt 125 Mitglieder – zum Vergleich: das EU-Parlament mit 27 Mitgliedstaaten umfasst 705 Sitze.
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Laut einer Studie des Zentrums für Demokratie Aarau (2022) erhöht ein breites Parlament Vertrauen und Identifikation der Bevölkerung mit der Politik.
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In Norwegen wurde 2017 die Anzahl lokaler Parlamente nach Gemeindefusionen reduziert – die politische Beteiligung sank nachweislich.
Viele Bürger:innen wünschen sich mehr Effizienz in der Politik – weniger Debatten, mehr Resultate. Gleichzeitig betonen Umfragen, wie wichtig ihnen Mitbestimmung und lokale Verankerung sind. Weniger Politiker:innen könnten bedeuten: weniger Kontakt, weniger Zugänglichkeit, weniger Einfluss.
Gerade in ländlichen Regionen oder bei Minderheitenfragen wäre eine Reduktion problematisch. Die Schweiz lebt vom Milizsystem, das auf Vielfalt und Bürgernähe basiert. Eine rein technokratische Verschlankung könnte diese Kultur untergraben – auch emotional.
Eine Schweiz mit 30 % weniger Politiker:innen wäre vielleicht günstiger und etwas schneller – aber auch weniger vielfältig und repräsentativ. Effizienz darf nicht zum Selbstzweck werden, wenn dabei die demokratische Identität auf der Strecke bleibt. Die Stärke des Schweizer Systems liegt gerade in seiner breiten Beteiligung – nicht in der Kürze seiner Sitzungen.
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